Corona-Krise: Wie deutsche PolitikerInnen den Gesundheitsnotstand in der EU verschärften

Themen: 

Foto: Marcelo Leal auf Unsplash

Deutschlands Regierende gehören bis heute zu den VerfechterInnen einer unbarmherzigen Sparpolitik, die nicht nur das deutsche Gesundheitssystem schwächte, sondern in noch stärkerem Maße das unserer Nachbarländer. Die Corona-Pandemie legt die verheerenden Folgen der Austeritätspolitik offen, die wesentlich in Berlin und Brüssel konzipiert und von willfährigen Regierungen vieler EU-Staaten umgesetzt wurde. Eine kritische Bestandsnahme.

Von Thomas Fritz

Auf dem Höhepunkt der Eurokrise im Oktober 2011 war Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) unzufrieden mit den Sparanstrengungen Italiens unter der Regierung von Silvio Berlusconi. "Italien muss seine Hausaufgaben machen", forderte der deutsche Austeritätspolitiker. Das Land solle "das Haushaltsdefizit schnell und deutlich zurückführen", "den Schuldenstand drücken" und "strukturelle Reformen am Arbeitsmarkt und in den sozialen Sicherungssystemen" durchführen.

Austerität: Deutschlands tödliches Rezept

Nur wenige Wochen später sollte Schäubles Wunsch in Erfüllung gehen. Unter dem Druck der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank und mehrerer EU-Regierungen trat Berlusconi Mitte November 2011 zurück und der ehemalige EU-Kommissar Mario Monti bildete eine Technokratenregierung, die bis April 2013 im Amt blieb. Monti begann ein umfassendes Sparprogramm, das die nachfolgenden Regierungen unter der sozialdemokratischen PD (Partito Democratico) beharrlich fortführten. 

Ein wesentlicher Baustein war Montis Gesetzesdekret Nr. 95/2012 über die Ausgabenrevision (Spending Review), das die Staatsausgaben vor allem im Gesundheitsbereich und dem öffentlichen Dienst drastisch kürzte. Die von den Folgeregierungen fortgesetzten Sparmaßnahmen umfassten Ausgabenkürzungen für Medikamente und medizinische Geräte, sinkende Vergütungen für Fallpauschalen, höhere Selbstbeteiligungen sowie einen massiven Bettenabbau in den Krankenhäusern.

Große Opfer musste vor allem der italienische Nationale Gesundheitsdienst erbringen (Servizio Sanitario Nazionale - SSN). Die Sparpakete zwangen den Gesundheitsdienst zu einer kontinuierlichen Reduktion der Personalkosten, der durch das Einfrieren von Löhnen und Gehältern sowie einen radikalen Personalabbau erreicht wurde (siehe Grafik). Heute, in Zeiten von Corona, rächt sich diese Sparpolitik auf das Bitterste.  


Der Personalabbau ist umso fataler, weil Italien zu den Ländern mit einem sehr niedrigen Anteil an Pflegekräften im Verhältnis zur Bevölkerung gehört. Auch in Spanien, dessen Gesundheitssystem ebenfalls unter der Corona-Pandemie zu kollabieren droht, gibt es viel zu wenige KrankenpflegerInnen, um eine angemessene Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten (siehe Grafik).

 

Rosskur: Radikalisierung des Spardiktats 

Unter dem Druck der EU-Behörden kürzten auch andere Länder ihre Gesundheitsausgaben. Denn im Zuge der Eurokrise nahm sich die EU das Recht, immer stärker in die nationale Gesundheitspolitik einzugreifen, obgleich dieser Bereich nicht vergemeinschaftet ist. Von Ländern, die finanzielle Hilfspakete erhielten, verlangte die EU detaillierte Reformen des Gesundheitswesens, die in den zu unterzeichnenden Memoranden aufgelistet und regelmäßig überwacht wurden. Diese Auflagen betrafen unter anderen Griechenland, Zypern, Irland und Portugal.

Doch die EU nahm nicht nur jene Länder ins Visier, die Hilfsprogramme in Anspruch nehmen mussten, sondern auch die übrigen Mitgliedsstaaten. Auf Drängen Deutschlands verschärfte die EU die haushaltspolitische Überwachung aller Mitgliedsstaaten mit Hilfe des 2011 eingeführten Europäischen Semesters. Seither veröffentlicht die Europäische Kommission jährlich für jedes EU-Mitglied länderspezifische Empfehlungen, in denen sie auch gesundheitspolitische Reformen einfordert.

Nach einer jüngsten Untersuchung sprach die EU zwischen 2011 und 2018 insgesamt 63 Empfehlungen für Kürzungen oder Privatisierungen im Gesundheitswesen der EU-Staaten aus. Die Bundesregierung erhöhte den Spardruck noch zusätzlich durch den von ihr durchgesetzten Fiskalpakt - faktisch eine Europäisierung der deutschen Schuldenbremse.

Der konzertierte Druck aus Brüssel und Berlin blieb nicht ohne Folgen. Zahlreiche Länder reduzierten seither den Anteil ihrer Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) - dies vor allem in Südeuropa und in den Ländern, die Hilfskredite erhielten. Besonders drastisch waren die Einschnitte in Griechenland und Irland (siehe Grafik). Italien, Spanien und Portugal drosselten ebenfalls die Gesundheitsausgaben, obgleich der Versorgungsbedarf auch in diesen Ländern steigt, unter anderem durch die höhere Lebenserwartung der Bevölkerung. 

   

Die Austeritätspolitik vertiefte die sozialen Disparitäten innerhalb der EU. Während Deutschland die Gesundheitsausgaben sogar ein wenig steigern konnte, sackten sie in den südeuropäischen Ländern ab - und dies von einem ohnehin niedrigeren Niveau als dem deutschen.

Wie ungleich verteilt heute die Chancen sind, Covid-19-PatientInnen angemessen zu behandeln, zeigt sich auch in der Ausstattung mit Intensivbetten. Nach einer Untersuchung der OECD konnte Deutschland zu Beginn der Corona-Krise auf eine erheblich bessere Ausstattung mit Intensivbetten zurückgreifen als Spanien, Italien oder Irland (siehe Grafik). Diese Diskrepanz ist umso erschreckender, da selbst die Zahl deutscher Intensivbetten als unzureichend gilt und derzeit deutlich aufgestockt wird.

 

Spaltpilz: Die Union der Ungleichheit

Auch innerstaatlich nahm die Ungleichheit beim Zugang zu Gesundheitsleistungen zu, denn viele Regierungen erhöhten den Zwang zu privater Vorsorge. Während die Haushaltsmittel schrumpften, stiegen Zuzahlungen, Behandlungsgebühren und andere Formen privater Selbstbeteiligungen deutlich an. Erschwerend hinzu kommt: In vielen der ärmeren Länder liegt der Anteil der privaten Ausgaben an den gesamten Gesundheitsausgaben weit höher als in Deutschland (siehe Grafik).


Trotz der eklatanten Ungerechtigkeit ihrer Politik hielten deutsche PolitikerInnen bis zuletzt an dem unbarmherzigen Sparkurs gegenüber den europäischen Nachbarn fest. Als die Fünf-Sterne-Regierung Italiens (zunächst in einer Koalition mit der rechten Lega, später mit der PD) im Sommer 2018 erstmals die rigiden Defizitgrenzen der EU herausforderte und höhere Staatsausgaben ankündigte, war der Aufschrei im deutschen Establishment groß.
 

Während Günther Oettinger (CDU), seinerzeit EU-Haushaltskommissar, in aller Öffentlichkeit auf eine Abstrafung Italiens durch die Finanzmärkte setzte, warnte Finanzminister Olaf Scholz (SPD) die ItalienerInnen vor Überschuldung. Noch schärfer trat der grüne Europapolitiker Sven Giegold auf. Sollte die Regierung in Rom an ihren Haushaltsplänen festhalten, "muss die EU ein Defizitverfahren gegen Italien einleiten", so der Grüne. Das von der Kommission in der Folge tatsächlich angedrohte Defizitverfahren konnte Italiens Regierung im Sommer 2019 nur durch eine beträchtliche Kürzung ihrer geplanten Ausgaben abwenden.  

Deutscher Widerstand gegen Coronabonds

Unter dem Eindruck der Corona-Krise steigt vor allem in Italien die Verbitterung über die unsolidarische deutsche Politik. Blankes Entsetzen löste Anfang März der deutsche Exportstopp für medizinische Schutzausrüstung aus, den Berlin erst lockerte, nachdem die Proteste zunahmen und China der italienischen Regierung großzügige Hilfe leistete.

Einen weiteren Tiefpunkt markiert die Berliner Zurückweisung der von Italien, Spanien, Frankreich und sechs weiteren Euroländern vorgeschlagenen Coronabonds - eine Neuauflage der schon länger diskutierten Eurobonds. Bei solchen von den Eurostaaten gemeinsam begebenen Anleihen entfiele der Zinsaufschlag, den Länder mit höherem Schuldenstand und geringerer Bonität als Deutschland bei der Emission ihrer Staatsanleihen gewähren müssen. 

Die Zinsaufaufschläge (sog. Spreads) orientieren sich an den Renditen der Staatsanleihen, die in der Corona-Rezession wieder stärker auseinanderdriften. Vor diesem Hintergrund legte die EZB Mitte März 2020 ein neues Programm von Anleihekäufen auf (Pandemic Emergency Purchase Programme). Mit ihren Anleihekäufen auf dem Sekundärmarkt kann die EZB die Zinsaufschläge dämpfen, die InvestorInnen verlangen. Derzeit liegen die Renditen zehnjähriger italienischer Anleihen um rund zwei Prozentpunkte höher als die von Bundesanleihen. Da Italien aber weit stärker von dem Wirtschaftseinbruch getroffen ist als Deutschland, fürchtet die dortige Regierung eine weitere Zunahme der Renditedifferenz.

Eine solche Entwicklung ist durchaus möglich, wenn sich die Anleihekäufe der EZB als unzureichend erweisen oder wieder zurückgefahren werden. Tatsächlich ist es das Ziel deutscher Austerianer, die Anleihekäufe der EZB so gering wie möglich zu halten, damit höher verschuldete Euroländer durch wachsende Zinsen auf den Anleihemärkten abgestraft werden.

Eine heftige Abstrafung erlitten einige Staaten bereits in der Eurokrise. Damals stiegen die Renditedifferenzen mehrerer Staatsanleihen gegenüber zehnjährigen Bundesanleihen stark an. Im Fall italienischer und spanischer Staatsanleihen betrug die Differenz kurzzeitig über fünf Prozentpunkte, bei portugiesischen Anleihen über 10 Prozentpunkte und bei griechischen sogar über 20 Prozentpunkte (siehe Grafik). 


Einer solchen Abstrafung durch die Finanzmärkte könnten die Euroländer am günstigsten entgehen, wenn die EZB ihnen die Staatsanleihen direkt abkauft (d.h. schon auf dem Primärmarkt) - und nicht erst den Banken auf dem Sekundärmarkt, wie es derzeit noch der Fall ist. Auch die nun von Italien und anderen Ländern vorgeschlagenen Coronabonds brächten die wirksamste Erleichterung für die Finanzierung öffentlicher Aufgaben, wenn sie über die Dauer der Krise direkt von der EZB gekauft würden - eine direkte Staatsfinanzierung, wie sie etwa der US-Zentralbank FED (Federal Reserve) grundsätzlich möglich ist.

 

Politik der kalten Schulter: GroKo bleibt hart

Die Bundesregierung aber bleibt bei ihrer Politik der kalten Schulter und blockiert die Einführung von Corona- oder Eurobonds, egal in welcher Form sie erfolgen würde. Nachdem Kanzlerin Angela Merkel (CDU) das Instrument beim jüngsten EU-Gipfel abgelehnt hatte, sekundierte Vize-Kanzler Olaf Scholz (SPD): "Die Notwendigkeit, solche neuen Instrumente zu erfinden, gibt es im Augenblick nicht." Auch Ursula von der Leyen (CDU), frisch inthronierte Kommissionspräsidentin, ließ die Neutralität ihres Amtes fahren, schlug sich auf die Seite Berlins und erklärte die deutschen Vorbehalte als "berechtigt".

Stattdessen wollen die beiden Groko-Parteien Italien und anderen Ländern die individuelle Aufnahme von Krediten des Euro-Rettungsfonds ESM (European Stability Mechanism) schmackhaft machen, der mit Klaus Regling ebenfalls von einem Deutschen geleitet wird. Doch dieses Danaer-Geschenk lehnt vor allem Italien bisher ab. Denn durch ESM-Kredite riskiert das Land strenge Strukturanpassungsauflagen, auch wenn diese unter Umständen gelockert werden könnten. Hinzu kommt: Länder, die Einzelkredite beim ESM beantragen, werden stigmatisiert: Sie erhöhen ihre Verschuldung und schaden ihrer Bonität.  

Gegenüber unseren Nachbarn bleiben die Groko-Parteien damit auf Austeritätskurs. Was CDU- und SPD-PolitikerInnen dabei geflissentlich unterschlagen: Ein nicht unbedeutender Teil der Staatsverschuldung Italiens und anderer Euroländer entsteht durch das deutsche Lohndumping, das sich in andauernden Handelsüberschüssen gegenüber unseren Partnerländern niederschlägt. Seit der Euro-Einführung erzielte Deutschland etwa gegenüber Italien Handelsüberschüsse im Warenverkehr, die sich auf rund 250 Milliarden Euro summieren (siehe Grafik). Kehrseite dieser Überschüsse sind Schulden Italiens gegenüber Deutschland. 

 

Vor diesem Hintergrund ist wenig verwunderlich, dass die Wut vieler ItalienerInnen auf Deutschland und die EU wächst. Sie fühlen sich missbraucht als klaglose AbnehmerInnen deutscher Dumpingexporte, die ihre eigene Wirtschaft schwächen und für die sie sich gegenüber Deutschland auch noch verschulden. Und dann verweigert ihnen die vermeintliche Solidargemeinschaft nicht nur Hilfe in größter Not, sondern auch eine ausreichende Finanzierung ihres Gesundheitswesens.

Der zunehmende Verdruss könnte sich zu einer existenziellen Gefahr für die Europäische Union auswachsen. Nach einer jüngsten Umfrage stieg die Ablehnung der EU unter den ItalienerInnen in den letzten Wochen sprunghaft an. Danach sagen 88 Prozent der Befragten, die EU sei keine Hilfe in der Corona-Krise. 67 Prozent meinen, die Mitgliedschaft in der EU sei für Italien von Nachteil.